Ein Raunen freudiger Erwartung erfüllte das Deutsche Theater Göttingen. Die Besucher unterhielten sich leise. Die Tochter sei Buchhändlerin und habe ihr zum Besuch dieser Lesung dringend geraten, sagte eine Dame. Andere haben Altes Land gelesen und wollten nun die Autorin und ihren neuen Roman Mittagsstunde kennenlernen.

Dörte Hansen war zu Gast beim Göttinger Literaturherbst und schon Tage vorher war die Veranstaltung ausverkauft. Ihr Debüt Altes Land wurde 2015 zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels gewählt und im Gespräch mit NDR-Kultur-Redakteur Joachim Dicks erzählte Dörte Hansen, dass der Stoff zu dem neuen Roman Mittagsstunde sie bereits lange Zeit vor dem Bestseller Altes Land sehr beschäftigte.

In Mittagsstunde besuchen wir als Leser das nordfriesische Dorf Brinkebüll. Geestland irgendwo zwischen Husum und Niebüll. Für Marret Feddersen „geiht de Welt ünner“. Sie sieht überall Zeichen des Weltuntergangs – „der erste Sommer ohne Störche, Stichlinge mit weißen Bäuchen, die alten Ulmen starben“. Ella und Sönke – der Kröger – Feddersen betreiben den einzigen Gasthof im Ort. Zu den Gastwirten kommen die Dorfbewohner, feiern ihre großen Feste, wie Hochzeiten, runde Geburtstage und Trauerfeiern. Die Landvermesser, die plötzlich im Dorf erscheinen, haben ihre Zimmer dort bezogen.
Und dann ist da noch Ingwer Feddersen. Er ist gegangen. Als einer der Ersten des Dorfes zur Oberschule nach Husum, später nach Kiel an die Universität. Nun lebt er als Mittvierziger noch in derselben Wohngemeinschaft wie zu Studentenzeiten. Will er dort noch in einer Senioren-WG wohnen?

Auf zwei Zeitebenen nimmt uns Hansen mit in die Zeit der großen Flurbereinigung ab Mitte der 1960er Jahre und ins 21. Jahrhundert. Markennamen lässt sie sehr dezent einfließen, dreiteilige Matratzen, Raffgardinen und Liedtexte begleiten uns durch die Jahrzehnte. Mit viel Sprachgefühl und Empathie für ihre Figuren erzählt Dörte Hansen vom einschneidenden Wandel, der mit den Landvermessern ins Dorf kam.
Sie erzählt von Dora Koopmann, die den Dorfladen führte und die „verklebten Gören an den Ohren aus dem Laden zerrte. Die Herrschaften bedienen, wer war man denn.“
Von den Verdreihten, wie Marret, die „man nicht quälte, man nahm sie hin wie Löcher in den Straßen“ und den „Brinkebüller Frauen. Keine, die zwei gesunde Hände hatte, kaufte jemals“ Kuchen, verzierte Torten oder Buttercreme-Schnitten beim Bäcker und Konditor. Dies käme einer „hauswirtschaftlichen Bankrotterklärung gleich“.
Ingwer kommt zurück ins Dorf und mit seinen Augen sehen wir die Veränderungen des Landes und der Menschen die dort leben. Aus seiner Sicht erfahren wir vom heutigen Forschungsalltag an deutschen Universitäten und der häuslichen Pflege von Angehörigen.
Er sieht jetzt die Folgen der Flurbereinigungen der 1960er und 1970 Jahre. Bäche wurden trockengelegt und Bäume gefällt. Das Dorf seiner Kindheit wurde zum Wohngebiet, Durchgangsort für Pendler, der letzte Bauernhof zum Industriebetrieb.
In einer unübersichtlich gewordenen Welt beobachtet Ingwer nicht nur bei sich selbst eine Rückbesinnung, ja gar eine Sehnsucht zur Natur und dem Dorfleben. Landschaften werden renaturiert, Dialekte und Traditionen wiederbelebt.

Während Dörte Hansen ihre Charaktere sich fragen lässt, ob es mal wieder zum Lachen oder weinen ist, gibt es für ihre Geschichte um die Mittagsstunde nur eine Antwort: ganz klar beides.
So folgte das Publikum bei der Veranstaltung im Deutschen Theater Göttingen dem wunderbaren Erzählton Hansens, mit ihrem leicht norddeutschen Singsang, zunächst nachdenklich, nur ab und an war ein Kichern zu hören. Nach der letzten gelesenen Szene wurde von Herzen gelacht.
Auch als Leser lachen wir nie über die Protagonisten, sondern immer mit ihnen.
Tief bewegend und mit lakonischem Humor verfolgt Hansen ihr Leitmotiv Mensch und Natur sowie die Frage von Schuld und Verantwortung.
Sie selbst bezeichnet Mittagsstunde als Herkunftsroman. Mit psychologischem Verständnis für die Handelnden ihrer Zeit und der genauen Zeichnung des Hauptdarstellers – dem Dorf Brinkebüll, das sich aber überall finden lässt – hat Dörte Hansen auch einen großartigen Gesellschaftsroman vorgelegt.

Es ist wie’s ist – in Brinkebüll.

Dörte Hansens Roman Mittagsstunde ist vor allem eins – herausragende Literatur.

Dörte Hansen: Mittagsstunde, Penguin 2018, 320 Seiten, ISBN der gebundenen Ausgabe
978-3-328-60003-9