Leben mit Büchern

Schlagwort: Diogenes

Faszinierend irritierend – „Die Flucht“ von Fuminori Nakamura

Ein Hund bellt.“

Und schon nach dem ersten Satz wird es so richtig spannend in Fuminori Nakamuras Roman über die legendenumwobene Trompete „Fanaticism“, in dem die Leser sich mit dem Protagonisten auf eine aufregend irritierende Flucht begeben.
Der Journalist und Buchautor Kenji Yamamine begegnet bei Recherchen nach der Geschichte dieser Trompete seiner großen Liebe Anh und kommt später selbst in den Besitz des Instruments. Der Trompete wird eine regelrecht überwältigende Macht nachgesagt, weshalb immer mehr dubiose Leute hinter ihr und Kenji her sind …

Autor Fuminori Nakamura lässt seinen Ich-Erzähler auf seiner Flucht über viele Themen nachdenken. Diese reichen zum Teil weit in die japanische Geschichte zurück, behandeln jedoch zeitlose universelle Zusammenhänge. Dabei konfrontiert er die Leser mit existenziellen gesellschaftlichen und individuellen Dilemmata in einer komplexen Welt.
Das klingt so furchtbar kompliziert, wie das Leben nun einmal ist, läuft indes auch auf die Frage hinaus, woran wir Menschen in Zeiten von Hass und Rechtspopulismus glauben wollen und können, und was passiert, wenn wir an unsere Grenzen kommen, für unsere Werte einzustehen.

Über all das, was den Flüchtenden beschäftigt, kann ich als Leserin ebenso nachdenken und miträtseln, mag vielleicht sogar Bezüge zu Kafka erkennen. Da aber die Richtung oder gar das Ende der Handlung nicht vorhersehbar ist, kann ich mich auch einfach nur in eine unheimlich fesselnde Geschichte vertiefen.

Ganz gleich, ob man Die Flucht eher als Spannungs-, Liebes- oder Gesellschaftsroman liest, für mich persönlich war das Buch ein echter Pageturner.

 

Fuminori Nakamura: Die Flucht, aus dem Japanischen von Luise Steggewentz, Diogenes 2024
ISBN der gebundenen Ausgabe
978-3-257-07285-3
ISBN der E-Book Ausgabe (epub)
978-3-257-61472-5

Die reichste Frau der Welt und die Justiz

Was sollte sie laut Kritiker alles darstellen: „die Gerechtigkeit“, „den Marshallplan oder gar die Apokalypse“. Die Rede ist von Claire Zachanassian, der Hauptfigur in Friedrich Dürrenmatts Theaterstück Der Besuch der alten Dame.
Es entstand 1955 und wurde am 29. Januar 1956 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. Fremdsprachige Aufführungen folgten in Japan, Paris oder auch am Shakespeare Memorial Theatre in Stratford-upon-Avon und heute gilt es als das bedeutendste Theaterstück Dürrenmatts.
Für die bei Diogenes erschienene Werkausgabe schrieb Dürrenmatt 1980 seine letzte und literarisch gültige Fassung, die auch immer noch als Schullektüre gelesen wird.
Dabei gefällt das Cover, der Bildausschnitt Nude with blue Hair von Roy Lichtenstein, dem Leser scheinbar nicht so gut wie die von ihm aufgeklebte Haselmaus. Auch sonst kam das Stück beim Schüler eher so lala an. Ich jedoch freute mich und nutzte die Gelegenheit, endlich mal wieder Dürrenmatt zu lesen.

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Mensch Kalmann, war das spannend!

Wer nach dem letzten Beitrag über deutsche Immigrantinnen in Island mehr Lust auf Geschichten von der Vulkaninsel im hohen Norden bekommen hat, sollte sich von Kalmann die besondere Geschichte über den Vermisstenfall des „Königs von Raufarhöfn“ erzählen lassen.

Diese Geschichte ist vor allem deshalb besonders, weil Kalmann selbst besonders ist. In Raufarhöfn gilt er daher für einige als der Dorfdepp. Seit sein Großvater, mit dem er in dessen Haus bisher zusammengewohnt hat und der immer einen Rat wusste, mehr als hundert Kilometer entfernt von Raufarhöfn im Pflegeheim lebt, fühlt er sich oft allein. Als er im Schnee eine Blutlache entdeckt und das ganze Dorf, Polizei und Suchtrupps, ja, irgendwann gefühlt ganz Island von ihm wissen will, ob das Blut mit dem Verschwinden von Róbert McKenzie zu tun hat, wird ihm das schon mal zu viel.

Kalmann ist natürlich nicht der Dorfdepp. Irgendwie erscheint er der Leserin eher wie der Narr am Hofe Raufarhöfns. Mit seiner fast kindlich naiven Art deckt er so einige Machenschaften und Zusammenhänge in der Dorfgesellschaft auf. Und so ist Kalmanns Geschichte immer ein wenig tragikomisch und am Ende richtig spannend.

Autor Joachim B. Schmidt weiß, wovon er schreibt.
Seit 2007 lebt der gebürtige Schweizer in Island. Er absolvierte dort eine Ausbildung zum Reiseleiter, die ihn tief in die Geschichte und die Natur Islands führte. Als interessierter Journalist lernte er auch die Lebensbedingungen und das Lebensgefühl der Menschen am Rande des nördlichen Polarkreises kennen, fern der Hauptstadt, abhängig von Fangquoten und Tourismus.

 

Joachim B. Schmidt: Kalmann, Diogenes 2020,
ISBN der Leinenausgabe
978-3-257-07138-2
ISBN des Taschenbuchs
978-3-257-24644-5
ISBN der E-Book Ausgabe (epub)
978-3-257-61136-6

„Der ehemalige Sohn“ — Realität zwischen Absurdität, Tristesse und Tragik

Ist es tatsächlich wieder so still geworden in Minsk, wie es die Abendnachrichten erscheinen lassen? Ist diese Stadt tatsächlich wieder ins Koma geschlagen und getreten worden wie Der ehemalige Sohn in Sasha Filipenkos gleichnamigen Roman?

Filipenko erzählt von Franzisk, einem Fußball liebenden Cellospieler auf dem Musik-Lyzeum in Minsk, der bei einer Massenpanik im Vorfeld eines Rockkonzerts in einer U-Bahn-Unterführung zwar knapp mit dem Leben davonkommt, danach jedoch viele Jahre im Koma liegt. Nachdem der ihn behandelnde Arzt diesen Zustand nicht Leben nennen will und ihn als bloßes „Gemüse“ bezeichnet, ja, ihn eigentlich für tot erklärt, wendet sich sogar die Mutter ab. Allein seine Großmutter versucht alles, damit ihr geliebter Enkelsohn aufwacht.

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Manchmal ist es so einfach, oder ?

Palo Alto die Stadt an der Küste Kaliforniens bringt man vor allem mit dem Silicon Valley und den dort ansässigen Computerfirmen in Verbindung.

John Jay Osborn, Autor von Liebe ist die beste Therapie, ist in Palo Alto geboren und lebt wie seine Protagonisten Charlotte sowie ihr Mann Steve in der Universitätsstadt an der San Francisco Bay. Hier treffen sich die Eheleute regelmäßig zur Paartherapie in Sandys Praxis.
Irgendetwas ist schiefgelaufen in ihrer Ehe. Steve hat Charlotte betrogen, sie ihn verlassen, aber abfinden wollen sich beide nicht mit dem endgültigen Scheitern ihrer Ehe. Therapeutin Sandy sieht zu Beginn auch nur geringe Chancen die Beziehung zu retten. Sie hat für die von beiden aufgebaute Ehe einen leeren Stuhl im Raum reserviert und will diesen wieder Besetzen.

Im Stil eines Kammerspiels strapaziert Osborn zwar manche Metapher etwas über, dennoch lässt sich Liebe ist die beste Therapie gut lesen und man möchte wissen, ob Charlott und Steve wieder zusammenkommen.

John Jay Osborn: Liebe ist die beste Therapie, aus dem Amerikanischen von Jenny Merling, Diogenes 2018, ISBN der Leinenausgabe
978-3-257-07043-9

Im Sumpf des MI5

Slough House ist der Sumpf des MI5. Und seine Mitarbeiter, die Slow Horses, wollen dort nicht versacken.
Deren Chef ist der übergewichtige und nicht gerade beliebte Jackson Lamb.

Zu Beginn des Spionageromans folgt der Leser jedoch zunächst River Cartwright auf dem Weg ins Slough House.
Wie den anderen Kollegen dort, wurde River die Karriereleiter in der Hauptstelle des MI5 weggezogen. Aber von wem und aus welchem Grund? Welches Spiel spielen die Kollegen, und wer ist der Regisseur? Und welche Rolle spielt Robert Hobden, ein abgehalfterter Journalist, der ehemals für große – demokratische – britische Zeitungen wie den Guardian geschrieben hat, und den Cartwright observieren soll?

Als im Internet ein junger Mann live enthauptet werden soll, beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Die Slow Horses wollen mitlaufen, um zu beweisen, dass sie es noch können.

Mick Harron ist ein klassischer Spionageroman mit trockenen Dialogen in bisweilen sehr ernsten Situationen gelungen.

Der Schreibstil ist modern mit schnellen Szenewechseln. Am Rande streift er noch gesamtgesellschaftliche Fragen, wie z.B.: Was darf Comedy? – Redefreiheit versus guten Geschmacks und Anstand werden angesprochen.

Zu guter Letzt: Unterschätze nie die Alten und Dicken – auch nicht beim Geheimdienst.

Mick Herron: Slow Horses, Ein Fall für Jackson Lamb (Bd.1), Diogenes 2018, ISBN der Leinenausgabe
978-3-257-07018 -7

Mick Herron: Dead Lions, Ein Fall für Jackson Lamb (Bd.2), Diogenes 2019, ISBN 978-3-257-07046-0

Mick Herron: Real Tigers, Ein Fall für Jackson Lamb (Bd.3), Diogenes 2020, ISBN 978-3-257-30080-2 

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