Mord ist der treffend kurze und mich dadurch direkt ansprechende Titel des Kriminalromans der indischen Autorin Anjali Deshpande.
Ich entdeckte ihn auf dem Büchertisch zum ersten Kasseler Krimisalon, der in Kooperation mit dem Literaturhaus Kassel im sanierten Palais Bellevue stattfand. Wenngleich an diesem Abend nicht aus dem Roman gelesen wurde, ließen mich die Covergestaltung mit dem erwähnten Titel, der Klappentext und die Sprache der ersten Seite das Buch mit nach Hause nehmen.
Am Tag nach Holi, dem indischen Fest der Farben, wird auf dem Landgut des reichen Geschäftsmannes J. J. Bindal vor den Toren Neu Delhis eine junge Frau mit einer sehr großen Schnittwunde im Unterleib aufgefunden. Da es sich bei der Toten wahrscheinlich um eine Prostituierte handelt und die Dorfbewohner ohnehin nicht mit der Polizei reden, wird in diesem Fall nicht gerade mit Hochdruck ermittelt. Nur der vom Dienst suspendierte Adhirath nutzt instinktiv seine überschüssige Zeit und forscht bei den Beteiligten weiter nach.
Dabei belasten Adhiraths Suspendierung und die wegen eines Dienstvergehens anstehende Anhörung seine Familie schon bis aufs Äußerste.
Die klassisch erzählte Kriminalgeschichte in Form des Polizeiromans dient Anjali Deshpande dazu, hinter die Kulissen der von Bollywood transportierten Klischees zu schauen.
Da lebt Adhirath mit seiner Frau Puschpa, seinem kleinen Sohn und seinen Eltern auf engstem Raum in der lärmenden Stadt, und obwohl Puschpa aus einer – noch – niedrigeren Kaste stammt, ist sie beruflich erfolgreich, die Familie nach Adhiraths Suspendierung auf ihr Einkommen dringend angewiesen. Trotz all dieser widrigen Umstände und zum Unmut seiner Eltern, versuchen Adhirath und seine Frau, eine moderne Ehe zu führen, doch die Spannungen und Streitereien nehmen zu.
Aber auch die Welt der Unternehmerfamilie, auf deren Anwesen das Opfer an Holi noch lebend gesehen wurde, erweist sich als nicht so glanzvoll wie vielleicht erwartet.
Anjali Deshpande ist sehr nah am Leben ihrer Figuren und ermöglicht dadurch einen tiefen Einblick in die indische Gesellschaft. So beeinflusst das Kastenwesen immer noch das familiäre Zusammenleben und berufliche Fortkommen, Frauen wie Adhiraths Mutter erfahren keinerlei Anerkennung, während Puschpa täglich dafür kämpft. „Gefälligkeiten“ sind allgegenwärtig und in der Metropole Delhi herrscht extreme soziale Ungleichheit.
Während ich als Leserin mehr als einmal kopfschüttelnd „unfassbar“ denke, bleibt es bis zum Schluss spannend zu erfahren, was vor einem Jahr überhaupt zu Adhiraths Suspendierung geführt hat und ob er einen Weg findet, seinen Kopf aus der Korruptionsschlinge zu ziehen.
Anjali Deshpande, geboren 1954, studierte Philosophie und engagierte sich in der Studenten- und Frauenbewegung. Sie war aktiv im politischen Straßentheater, bevor sie als Journalistin eine wöchentliche Kolumne über Frauen verfasste und gesellschaftskritische Artikel schrieb.
Zudem veröffentlichte Deshpande Kurzgeschichten in Hindi-Zeitschriften, Erzählungen sowie den Roman Impeachment.
Heute arbeitet sie hauptsächlich als freie Autorin auf Hindi und auf Englisch.
Der Kriminalroman Mord ist ihr erstes Buch, das ins Deutsche übersetzt wurde. Erschienen ist er im Heidelberger Draupadi Verlag, der sich seit nunmehr 20 Jahren auf literarische Werke aus Indien und anderen südasiatischen Ländern sowie auf Sachbücher über Südasien spezialisiert hat.
Anjali Deshpande: Mord, aus dem Hindi übersetzt von Almuth Degener, Draupadi Verlag 2023
ISBN der kartonierten Ausgabe
978-3-945191-80-4
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