Was sollte sie laut Kritiker alles darstellen: „die Gerechtigkeit“, „den Marshallplan oder gar die Apokalypse“. Die Rede ist von Claire Zachanassian, der Hauptfigur in Friedrich Dürrenmatts Theaterstück Der Besuch der alten Dame.
Es entstand 1955 und wurde am 29. Januar 1956 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. Fremdsprachige Aufführungen folgten in Japan, Paris oder auch am Shakespeare Memorial Theatre in Stratford-upon-Avon und heute gilt es als das bedeutendste Theaterstück Dürrenmatts.
Für die bei Diogenes erschienene Werkausgabe schrieb Dürrenmatt 1980 seine letzte und literarisch gültige Fassung, die auch immer noch als Schullektüre gelesen wird.
Dabei gefällt das Cover, der Bildausschnitt Nude with blue Hair von Roy Lichtenstein, dem Leser scheinbar nicht so gut wie die von ihm aufgeklebte Haselmaus. Auch sonst kam das Stück beim Schüler eher so lala an. Ich jedoch freute mich und nutzte die Gelegenheit, endlich mal wieder Dürrenmatt zu lesen.
Was hat es nun mit Claire Zachanassian auf sich?
Als alte Frau kehrt sie noch einmal in ihr Heimatdorf Güllen zurück. Inzwischen zu ansehnlichem Wohlstand gekommen, erwarten die Einwohner und der Bürgermeister, dass die Milliardärin der verarmten Gemeinde zum Aufschwung verhilft. In einer verklärenden Rede lässt der Bürgermeister die „Heimgefundene“ hochleben, doch Claire Zachanassian stellt eine Bedingung: „Ich gebe euch eine Milliarde und kaufe mir dafür die Gerechtigkeit.“
Ihr ehemaliger Liebhaber, Alfred Ill, hat sie damals verlassen und verleumdet. Wenn ihn jemand tötet, bietet sie eine Milliarde für Güllen.
Ja, Claire Zachanassian stellt nicht die Gerechtigkeit dar, wie Dürrenmatt selbst im Anhang schreibt: „sie sei nur das, was sie ist, die reichste Frau der Welt“. Dadurch hat sie quasi alle Macht der Welt, die sie im Stück, nicht ganz ohne Humor, einsetzt.
Die Reaktionen der Bevölkerung auf dieses unmoralische Angebot machen die Schwächen der Menschen offensichtlich und zeigen die Rolle von Kommunalpolitik, Polizei, Kirche und Presse im Weltgeschehen auf.
Armut und Wohlstand, Macht und Gerechtigkeit oder Freiheit und Verantwortung, aber auch das Verhältnis zwischen Mann und Frau sind die großen Themen in Der Besuch der alten Dame.
Das macht das Stück zeitlos. Es gibt wie heute Verschwörungstheorien – beispielsweise zum Bankrott Güllens – „Von den Juden gesponnen. Die Hochfinanz lauert dahinter. Der internationale Kommunismus zieht seine Fäden“ und macht auf die Abhängigkeit von Investoren und die Bedeutung von Monopolen aufmerksam.
Die deutliche Sprache, vielleicht manchmal etwas zu heftig in die Tasten gehauen, ist dafür schnell und interessant zu lesen, und legt, wie gute Satire, den Finger direkt in die Wunde.
Und so nahm ich mir – seit dem Studium1 – endlich mal wieder Zeit für Dürrenmatts Bücher und griff auch gleich noch zu Justiz.
Auch Friedrich Dürrenmatt hat sich für Justiz Zeit genommen.
Begonnen hatte er diese zu seinen Kriminalromanen zählende Geschichte bereits 1957. Über der Arbeit an anderen Stücken und Romanen blieb Justiz zunächst liegen. Mehrere Versuche, den Roman weiterzuschreiben und zu vollenden, scheiterten. 1985 schlug der damalige Diogenes Verleger, Daniel Keel, Dürrenmatt vor, Justiz als Fragment zu veröffentlichen. Daraufhin schrieb er den Roman um und ergänzte ihn um ein Kapitel, das die Geschichte in den 1980er Jahren enden lässt.
Wie im Besuch der alten Dame wird auch in Justiz ein Augenmerk darauf gelegt, das Recht nicht immer Gerechtigkeit bedeutet.
In aller Öffentlichkeit, in einem Restaurant, in dem die Honoratioren der Stadt verkehren, und scheinbar ohne jeden Grund erschießt der Züricher Alt-Kantonsrat Dr. h. c. Isaak Kohler den Germanisten Professor Adolf Winter. In einem ersten, schnell durchgeführten Prozess, die Sachlage ist klar, wird Kohler zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt.
Nun kommt der verzweifelte Erzähler – dessen Aufzeichnungen wir in den ersten beiden Teilen lesen – so richtig ins Spiel. Ein junger, mittelloser Anwalt namens Spät, den Kohler zu sich ins Gefängnis bestellt und ihm für gutes Geld den Auftrag anbietet, den Fall noch einmal unter der Annahme zu untersuchen, dass Kohler nicht der Täter sei. Erst möchte Spät, ob der Unsinnigkeit des Anliegens, ablehnen, doch die Hoffnung auf Reputation und weitere Aufträge lassen ihn seine Meinung ändern. Mit fatalen Folgen …
Die Story an sich ist spannend. Im Wissen um die Entstehungsgeschichte des Romans, ist es allerdings fast spannender zu erfahren, wie Dürrenmatt es geschafft hat, seine eigene zeitliche und innere Distanz zum Anfang der Geschichte in die weitere Handlung einzufügen. Gelungen ist ihm das, indem er einen ihm nun näherstehenden Erzähler ins Schriftsteller-Milieu der 80er gestellt hat.
Justiz ist nicht einfach nur ein Kriminalroman über die Jurisprudenz, sondern auch ein Roman, der wiederholt die besondere Rolle der Schweiz thematisiert.
Je nach gesellschaftlichem Stand erzählen Dürrenmatts Protagonisten von ihrer Einstellung zur Schweizer Geschichte, zum Frauenstimmrecht oder zur Rüstungsindustrie „in diesem Land“.
Und so lässt sich auch Justiz im Jahr 2023 mit aktuellen Bezügen lesen.
Die Besonderheit der Schweizer Neutralität wird gerne vorgeschoben, um sich aus allem herauszuhalten, nicht Stellung beziehen zu müssen. Sei es zur NS-Vergangenheit oder zum Ukraine-Krieg.
Immerhin, an einem Mahnmal zur Erinnerung an die NS-Zeit wird gearbeitet.
1Für die Magisterarbeit Die Physiker
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