Ist es tatsächlich wieder so still geworden in Minsk, wie es die Abendnachrichten erscheinen lassen? Ist diese Stadt tatsächlich wieder ins Koma geschlagen und getreten worden wie Der ehemalige Sohn in Sasha Filipenkos gleichnamigen Roman?
Filipenko erzählt von Franzisk, einem Fußball liebenden Cellospieler auf dem Musik-Lyzeum in Minsk, der bei einer Massenpanik im Vorfeld eines Rockkonzerts in einer U-Bahn-Unterführung zwar knapp mit dem Leben davonkommt, danach jedoch viele Jahre im Koma liegt. Nachdem der ihn behandelnde Arzt diesen Zustand nicht Leben nennen will und ihn als bloßes „Gemüse“ bezeichnet, ja, ihn eigentlich für tot erklärt, wendet sich sogar die Mutter ab. Allein seine Großmutter versucht alles, damit ihr geliebter Enkelsohn aufwacht.
Zehn Jahre später schlägt Franzisk die Augen auf. Was er sieht, ist eine Stadt, die wie er scheinbar im Koma gelegen hat. Auf den ersten Blick hat sich fast nichts verändert und im Land ist immer noch derselbe Präsident im Amt.
Sein alter Freund Stass zeigt ihm nach und nach, was es bedeutet, in verkrusteten autoritären Strukturen zu leben, zwischen Absurditäten, Tristesse und Tragik.
Mit mal ironisch leichtem bis hin zu berührend traurigem Erzählton zeichnet Sasha Filipenko in Der ehemalige Sohn belarussische Vergangenheit in symbolhaften, aber auch deutlichen Geschichten und feinen Dialogen um Zisk und seiner Babuschka nach.
So verwendet Sasha Filipenko schon zu Beginn des Romans für den Direktor des Lyzeums das Bild vom Trainer, der die „ganze Karriere hindurch mit immer derselben Aufstellung arbeitet“. Erweitert um Vergleiche zwischen Mannschaftssport und Staatspolitik, beziehungsweise dem Trainer einer Mannschaft und dem Präsidenten des Staats, lässt er dies später großartig von Franzisk und einem Kollegen in dem Sanitärgeschäft ausdiskutieren, in dem Franzisk nach dem Erwachen eine Anstellung als Verkäufer erhalten hat.
Der ehemalige Sohn erschien im Original bereits 2014, liest sich aber brandaktuell und ist dabei auch eine allgemeine Parabel über das Leben in der Diktatur — als „Geisel in diesem Narrenhaus“.
In diesem Narrenhaus geblieben ist Sasha Filipenko, wie so viele kritische Schriftsteller aus Belarus, nicht, denn:
„Auch wenn Sasha Filipenko in seinem Roman »Der ehemalige Sohn« fast keine Namen von Personen, Nationen und Ländern nennt, haben viele der darin beschriebenen Ereignisse einen realen Hintergrund und sind so oder ganz ähnlich tatsächlich passiert.“
Hervorragend übersetzt hat Ruth Altenhofer diesen Roman und ihn im Anschluss mit erläuternden Anmerkungen für das deutschsprachige Lesepublikum versehen, zu dem ich mich nun dankbar zählen darf.
Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn, aus dem Russischen von Ruth Altenhofer, Diogenes 2021,
ISBN der gebundenen Leinenausgabe
978-3-257-07156-6
ISBN der E-Book Ausgabe (epub)
978-3-257-61185-4
Spannend geschrieben, sehr aktuelles Thema, macht mich neugierig, das Buch zu lesen.
Ja, leider ist der Roman erschütternd aktuell.
Im Spiel „Absurd“ ist ein neuer Sieger in Sicht: Die Geschichte um ein irisches Passagierflugzeug, das 72 km vor dem Zielflughafen aufgrund „einer potentiellen Sicherheitsbedrohung an Bord“ von einem Kampfjet eskortiert nach Minsk — Luftlinie ca. 170 km! — umkehren musste. Natürlich nur, um „Europa zu verteidigen“.