Zwischen dem Erscheinen der ersten beiden Bände der autobiografisch gefärbten „Hilla-Palm-Saga“, Das verborgene Wort (2001) und Aufbruch (2009), lagen lange acht Jahre. Auf den dritten Teil, Spiel der Zeit, musste sich die Leserschaft dann noch bis 2014 gedulden. Es sind jeweils sehr umfangreiche Romane, in denen die Autorin Ulla Hahn den Lebensweg der Hilla Palm, einem „Kenk vun nem Prolete“ aus einem niederrheinischen Dorf — und ausgestattet mit einer großen Liebe zu den Wörtern — an die höhere Schule und zur Universität in Köln erzählt.

Werk mit Autorin

Begleitet die Leserin, wie hier auf vitaLibris schon beschrieben, in den ersten beiden Bänden die Ich-Erzählerin Hilla immer sehr unmittelbar, erlebt und fühlt direkt mit, beginnt dann auch das Spiel der Zeit mit dem Leitmotiv LOMMER JONN.

Nun aber beginnt die Autorin wie der Zirkusdirektor in der Manege ihr „Stammpersonal“ „hereinspazieren“ zu lassen und begrüßt „Vater Josef Palm und Mutter Maria Palm, die Großmutter Anna Rüppli, den Bruder Bertram, Altstraße 2; Tante Berta, Onkel Schäng und die Cousinen Maria und Hanni“.
Die „Nacht auf der Lichtung“ aus Aufbruch hat Hilla noch nicht verwunden und so schaltet sich Ulla Hahn im Spiel der Zeit wiederholt mit eigenen Worten ein, um der jungen Hilla mit ihrer ganzen heutigen Lebenserfahrung zur Seite zu stehen.
In der Handlung stellt die Autorin ihrer Protagonistin dafür Hugo zur Seite.
Inzwischen, Mitte der 60er Jahre, studiert Hilla Palm in Köln Germanistik und Geschichte. Sie hat ein kleines Zimmer im Hildegard-Kolleg, einem Wohnheim für katholische Studentinnen, wo sie neue Kontakte zu Mitbewohnerinnen knüpft.
Auf dem Karnevalsball der katholischen Jugend lernt die Raupe Hilla dann, beim sehr amüsant geschilderten Tanz mit einem Käfer, Hugo kennen. Er wird „ihr“ Hugo werden, sieht er doch Hillas Verletzlichkeit und hilft ihr, über die „Nacht auf der Lichtung“ hinwegzukommen. Auch Hugo ist verwundet. Er stammt aus einer wohlhabenden, großbürgerlichen und erzkonservativ-katholischen Familie mit guten Beziehungen zu den Honoratioren, vom Kardinal bis zum Oberbürgermeister, und hat vom Vater nur Verachtung erfahren.
Gemeinsam erleben sie die gesellschaftlichen Veränderungen dieser Jahre, die auch in die Sprach- und Literaturwissenschaft Eingang finden.

Kopf über Herz oder „Herz über Kopf“?

Innerhalb weniger Monate, verstärkt durch den Tod Benno Ohnesorgs und das Attentat auf Rudi Dutschke, verändert sich die gesellschaftliche Stimmung enorm. Studenten-Partys einer bürgerlich-linken Elite, bei denen man sich noch siezte, sind passé. Stattdessen werden Flower-Power-Partys mit freier Liebe gefeiert, bei denen Hippies, Revolutionäre und linke Christen aufeinandertreffen. „Das Private ist politisch“, große Demonstrationen mit Sit-ins werden organisiert und Teach-ins sind an der Tagesordnung.
Die an Zeitgeschichte interessierten, oder aus Ulla Hahns Generation stammenden, Leser*innen erkennen die altbekannten Begleiter und Schlagzeilen dieser Zeit, etwa aus der Kommune 1 Uschi Obermaier und Fritz Teufel, die Bedeutung der Bild-Zeitung und des Springer Verlags, Vietnamkrieg und Notstandsgesetzgebung.

Hilla und Hugo sind einerseits mittendrin im Geschehen, halten sich mit konkreten Aktivitäten jedoch zurück.
Zwar gehen sie gemeinsam zu einigen Veranstaltungen, diskutieren viel über Literatur und Gesellschaft, etwa über den Umgang mit dem Werk des amerikanischen Dichters Ezra Pound oder über Maos Gedichte, machen sich aber auch lustig über Phrasen und Parolen. Teach-ins waren für Hilla vor allem „Schaukämpfe“.
Im Gegensatz zu den meisten Rednern weiß sie schließlich wie es „in der Produktion“ zugeht, und zwar nicht nur aus Büchern, sondern von ihrem Vater und aus eigener Erfahrung in der Fabrik. Und so kümmern sich Hilla und Hugo vor allem um ihr Studium und ihre Liebe zueinander. Die Liebe zweier „spätbürgerlichen Individualisten katholischer Machart“; „der Erstgeborene aus einem guten Stall und dat Kenk vun nem Prolete“.

Mit den Anmerkungen Ulla Hahns aus dem 21. Jahrhundert und Hilla als „Feldforschung“ betreibende Akteurin schafft die Autorin Distanz zur Zeitgeschichte und ihrer Protagonistin. Aber „in Hilla, in mir“ und den eingebundenen Gedichten, stellt sie ab und an auch das „Herz über den Kopf“.
Die guten, emotionalen Milieuschilderungen aus den ersten beiden Teilen finden sich im Spiel der Zeit eher in den Familienzusammenkünften und in der Beziehung Hillas zu ihren Eltern.
Da die sprach- und literaturwissenschaftlichen Gedankenspiele mit Hugo allerdings einen so großen Raum einnehmen, dass die emotionalen Momente in diesem Roman selten bleiben, siegt meist der — subjektive — Kopf über das Herz. Das kann für den Kopf dennoch reizvoll sein, jedenfalls wenn man ein gewisses Interesse dafür aufbringt. Für manche Leser*innen könnten die Ausführungen der beiden aber ein wenig erschöpfend wirken.

Alles hängt mit allem zusammen

Hilla möchte neben dem Schlechten vor allem das Gute zeigen:

„Das Gute bekannt zu machen, ist wichtiger, als überall das Schlechte zu suchen. […] Das Gute bleibt nämlich immer bedroht durch das Schlechte!“

Hillas Lebens- und Lesemaxime, Nietzsches „Liebe als Kunstgriff“, kann man auch auf das Spiel der Zeit anwenden, und den Roman mit vielen Bezügen zur Gegenwart lesen.

Ob es sich dabei um die individuelle oder gesellschaftliche Vergangenheitsbewältigung handelt, etwa hinsichtlich persönlicher Schicksalsschläge oder der Rolle der Eltern und Großeltern, Politiker oder Professoren im Nationalsozialismus, ob es um Missbrauchsvorfälle in der katholischen Kirche, das Zölibat, die Stellung der Frau oder den eigenen, individuellen Glauben geht oder um die Kraft von Wörtern und Zuschreibungen in Form von Phrasen, Parolen und Fake News: Die Leser*innen haben die Möglichkeit, ihre eigenen Erfahrungen und Einstellungen zu diesen immer aktuellen Themen zu reflektieren, und auch die Veränderungen zum Guten zu sehen.

Gleich, woran die jungen Leute im Spiel der Zeit auch glaubten, es einte sie die Hoffnung auf eine gute Zukunft.

In eben dieser Hoffnung werde ich den letzten Band der „Hilla-Palm-Saga“ wohl noch angehen, wenngleich ich auf die Einmischungen Ulla Hahns, von ihrem Autorenschreibtisch aus, meist hätte verzichten können.

 

Ulla Hahn: Spiel der Zeit, Deutsche Verlags-Anstalt 2014,
ISBN der gebundenen Ausgabe
978-3-421-04585-0

 

Von Ulla Hahn sind zuletzt „Neue Gedichte aus zwanzig Jahren“ unter dem Titel „Stille Trommeln“ im Penguin Verlag erschienen.