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Leben mit Büchern

Entscheidung für die Provinz

Hundert Jahre Franz Radziwill in Dangast

 

Nach Jahren des pandemiebedingten Ausfalls, ist die Literaturszene im Frühling 2023, für den Zeitraum von vier Tagen, wieder in der Großstadt Leipzig zusammengekommen. Kulturfreunde und Buchhändlerinnen sorgen nun wieder dafür, dass Gespräche über Literatur und die Bücher selbst, in all ihrer Form und Schönheit, während des verbleibenden Rests des Jahres einen Weg zu den Menschen, auch fernab der Großstadt, finden.

Der Maler Franz Radziwill stellte sich vor hundert Jahren wohl eher die Frage, wie seine Kunst weiterhin in die Galerien und Ausstellungen der Großstädte gelangen kann, nachdem er beschloss, sich in dem Fischerdorf Dangast am Jadebusen niederzulassen.
Schließlich hatte er durch gute Kontakte und einflussreiche Förderer bereits Erfolge in Hamburg und Berlin. Karl Schmidt-Rottluff empfahl dem jungen Radziwill, im Sommer 1920 nach Dangast zu fahren, diente es den Brücke-Malern doch schon von 1907 an als Künstlerort der Inspiration.
Franz Radziwill fühlte sich dort so wohl, dass er 1923 ein Fischerhaus kaufte, in dem er bis zu seinem Tod 1983 lebte, und das heute als „gemauerte Künstlerbiographie“ besucht werden kann.

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Lächeln und Zuhören

Vor fünfzig Jahren übersetzte die Schriftstellerin Eva Demski mit dem Buch „Anarchismus – Begriff und Praxis“ von Daniel Guérin einen Klassiker zum Thema. Seitdem schaute sie viel bewusster auf anarchistische Lebensformen und dahinterstehende Ideen.

Nun ist sie mit Neugier und Freude auf die Suche gegangen, um den „Zauber einer unideologischen Denkweise wiederzuentdecken“ und auch anarchistischen Ideen der Gegenwart nachzuspüren. Dafür hat sie ein Album angelegt, in dem sich bekannte und weniger bekannte oder gar vergessene Menschen finden, die verschiedene „Denkelemente des Libertären“ in ihrem Leben, oder auch für Andere, ermöglichen wollten. Davon grenzt sie den Anarchismus als Doktrin ab und berichtet auch von „Irrwegen“, die etwa mit Gewalt beschritten wurden.
Demski unterscheidet den Anarchisten vom Anarchen, zu denen sie beispielsweise Marcel Reich-Ranicki oder Udo Lindenberg zählt und von denen sie unterhaltsam erzählt. Das macht sie wunderbar subjektiv – schließlich ist es ihr Album. Sie lässt ihre Gedanken aber nicht unbegründet und schaut voller Respekt auf die Leben der von ihr vorgestellten Menschen.

Mit Fotos, die Spuren des Anarchismus im Stadtbild zeigen, werden die Geschichten um Banksy und Co ergänzt. So, wie es sich für ein Album gehört.

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Ein wildes Jahr

Das Jahr 2022 habe ich persönlich als ziemlich unruhiges Jahr empfunden. Um es mal etwas beschönigend auszudrücken.

Obwohl es endlich einen Covid-Impfstoff gibt, hatte fast jeder in diesem Jahr eine Infektion mit dem Virus. Ein Verbrecher, samt seiner kriminellen Handlanger, zieht seinen imperialistischen Angriffskrieg ohne Rücksicht auf Verluste gnadenlos durch. In der weltweit größten Ausstellung für zeitgenössische Kunst ging es kaum um dieselbe und ein wild gewordener Milliardär sorgt dafür, dass eine, für mich bisher recht entspannte, Social-Media-Plattform von den vielen neuen Nutzern fast genauso hektisch betrieben wird wie dieser Microbloggingdienst, den der Milliardär nun doch kaufen musste.
Hinzu kam manch wilde Diskussion über „die gespaltene Gesellschaft“, Identität und „kulturelle Aneignung“, über Pazifismus und Antisemitismus, beziehungsweise darüber, selbst „auf der richtigen Seite zu stehen“.
Und natürlich ging es auch um Meinungs-, Rede-, Kunst- oder andere Freiheiten.

Ein wenig unter ging dabei, dass es doch auch endlich wieder Veranstaltungen mit interessantem literarischen Bezug gab. Gerne hätte ich zum Beispiel die Kasselbuch Übersetzertage besucht oder wäre zur szenischen Lesung mit einem Vortrag zum Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller gegangen, die im Juli im Naturkundemuseum Kassel stattfinden sollte.

Aus diesem Grund hatte ich mir im Frühsommer schon mal vorab Rüdiger Safranskis Goethe & Schiller, Geschichte einer Freundschaft, ausgeliehen.

Nun, ein wenig wild gestaltete sich daraufhin auch mein Leseleben. Da ich dann doch keiner dieser Veranstaltungen beiwohnen konnte, hatte ich aus dem Buch zwar so einiges über die Beziehung zwischen Goethe und Schiller neu erfahren, für einen Beitrag hier aber nicht die Muse. So wendete ich mich in der Ferienzeit erst einmal der etwas abwechslungsreicheren Unterhaltungs-, beziehungsweise Spannungsliteratur zu. Unter anderem standen Elisabeth Herrmanns Zartbittertod oder Anthony Horowitz‘ Die Morde von Pye Hall auf dem Programm.

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„Weiter atmen“ für das, was im Leben wirklich zählt

Der Londoner Lehrer Michael Kabongo hat seinen Job gekündigt, hat seinen Besitz der Wohlfahrt übergeben, bis auf ein Buch, das er auf jede Reise mitnahm, und hat in letzter Minute seinen Flieger nach San Francisco bestiegen, um mit seinen gesamten Ersparnissen von 9.021 Dollar auf seine letzte Reise zu gehen.
Sind sie aufgebraucht, „bringe ich mich um.“

Was hat ihn zu diesem Entschluss getrieben, und wie wird diese Geschichte ausgehen?

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Mensch Kalmann, war das spannend!

Wer nach dem letzten Beitrag über deutsche Immigrantinnen in Island mehr Lust auf Geschichten von der Vulkaninsel im hohen Norden bekommen hat, sollte sich von Kalmann die besondere Geschichte über den Vermisstenfall des „Königs von Raufarhöfn“ erzählen lassen.

Diese Geschichte ist vor allem deshalb besonders, weil Kalmann selbst besonders ist. In Raufarhöfn gilt er daher für einige als der Dorfdepp. Seit sein Großvater, mit dem er in dessen Haus bisher zusammengewohnt hat und der immer einen Rat wusste, mehr als hundert Kilometer entfernt von Raufarhöfn im Pflegeheim lebt, fühlt er sich oft allein. Als er im Schnee eine Blutlache entdeckt und das ganze Dorf, Polizei und Suchtrupps, ja, irgendwann gefühlt ganz Island von ihm wissen will, ob das Blut mit dem Verschwinden von Róbert McKenzie zu tun hat, wird ihm das schon mal zu viel.

Kalmann ist natürlich nicht der Dorfdepp. Irgendwie erscheint er der Leserin eher wie der Narr am Hofe Raufarhöfns. Mit seiner fast kindlich naiven Art deckt er so einige Machenschaften und Zusammenhänge in der Dorfgesellschaft auf. Und so ist Kalmanns Geschichte immer ein wenig tragikomisch und am Ende richtig spannend.

Autor Joachim B. Schmidt weiß, wovon er schreibt.
Seit 2007 lebt der gebürtige Schweizer in Island. Er absolvierte dort eine Ausbildung zum Reiseleiter, die ihn tief in die Geschichte und die Natur Islands führte. Als interessierter Journalist lernte er auch die Lebensbedingungen und das Lebensgefühl der Menschen am Rande des nördlichen Polarkreises kennen, fern der Hauptstadt, abhängig von Fangquoten und Tourismus.

 

Joachim B. Schmidt: Kalmann, Diogenes 2020,
ISBN der Leinenausgabe
978-3-257-07138-2
ISBN des Taschenbuchs
978-3-257-24644-5
ISBN der E-Book Ausgabe (epub)
978-3-257-61136-6

„Warum wissen wir nichts davon?“

Warum wissen wir hier in Deutschland nichts davon, dass ab 1949 deutsche Frauen eine große Immigrantinnengruppe in Island gewesen sind? Das fragte sich die Autorin Anne Siegel, als sie eines Abends von ihrer isländischen Freundin davon erfuhr.
Auch meine liebe Freundin Franziska, die ich schon seit Studientagen kenne, hatte noch nichts von diesem hochinteressanten Kapitel deutsch-isländischer Zeitgeschichte gehört, und nachdem sie Anne Siegels Buch Frauen, Fische, Fjorde entdeckte, hat sie es bisher noch viermal in ihrem Freundeskreis verschenkt, eines eben auch an mich.

Dazu, warum wir nichts darüber wissen, stellt Anne Siegel nur im Epilog kurze Überlegungen an, die von ihren persönlichen Eindrücken aus den intensiven Gesprächen mit den inzwischen betagten Frauen und dem eigenen historischen Lernen in der Bundesrepublik der 70er Jahre beeinflusst sind.
Aber dank ihres Buches erfahren wir nun endlich doch davon.

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Auf der Suche nach Wahrheit

2013 drückte mir die Kollegin Hanne das Buch Wer das Schweigen bricht von Mechtild Borrmann in die Hand und verwies auch gleich auf deren Nachfolgeroman Der Geiger. Jetzt musste ich aber erst in der Bücherei auf Trümmerkind stoßen, es gleich mitnehmen und war beim Lesen wieder so von Borrmanns klarer Sprache beeindruckt, dass ich nun endlich auch auf die Suche nach der Geige des Ilja Wassiljewitsch Grenko ging.

1948 wird Ilja Grenko unmittelbar nach einem erfolgreichen Konzert in Moskau unter dem Vorwurf der geplanten Landesflucht verhaftet und direkt zur berüchtigten Lubjanka gebracht. Ein Irrtum, hofft er – jedoch vergebens. Seine Geige, eine seit Generationen in Familienbesitz befindliche Stradivari, wird ihm abgenommen. Ilja wird ins Arbeitslager Workuta deportiert, während sowohl in der öffentlichen Propaganda als auch seiner Frau Galina erklärt wird, er habe sich ins Ausland abgesetzt. Für Galina und die beiden kleinen Söhne Pawel und Ossip bedeutet dies die Verbannung nach Karaganda ins ferne Kasachstan. Weiterlesen

Von harten Zeiten erzählt Adrian McKinty in „Der sichere Tod“

„Wir haben 1992. In New York werden jedes Jahr gut zweitausend Leute umgebracht. Es gibt Bandenkriege.“
Und: „In der Bronx leben Zehntausende irische Neueinwanderer. Arme, illegale Halbwüchsige, die vor dreißig Prozent Arbeitslosigkeit und dem Bürgerkrieg geflohen waren“.

Einer von ihnen ist Michael Forsythe aus Belfast.
Michael wollte nicht nach Amerika und wie der Schwager seiner Cousine für den „Geschäftsmann“ Darkey White arbeiten. Aber kurz vor Weihnachten ’91 wurde ihm wegen Sozialhilfebetrugs endgültig die Stütze gestrichen, sodass er keinen anderen Ausweg sah, als doch zu fliegen.

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Tomte Tummetott macht Hoffnung

Tomte ist ein uralter Wichtel, ein Wichtel, so wie wir ihn uns nach den Überlieferungen nur vorstellen können.

Er ist klein, hat einen langen weißen Bart und trägt eine rote Wichtelmütze.

Tomte lebt verborgen auf jedem Bauernhof und in jedem Haus. Nur des Nachts kommt er hervor, schaut nach den Tieren im Stall und den schlafenden Menschen. Gesehen hat ihn noch niemand, aber jeder weiß, dass es ihn wirklich gibt.

In Astrid Lindgrens Text von Tomte Tummetott raunt er den Tieren und uns hoffnungsvolle Wichtelworte zu:

Viele Winter und viele Sommer sah ich kommen und gehen. Geduld nur, Geduld! Der Frühling ist nah.“

Und solange im Haus Erde noch Menschen wohnen, wird Tomte auf sie aufpassen.

Lasst uns also gut zu ihnen sein – zu Tomte, den Menschen und der Erde auf der wir wohnen.

Astrid Lindgren: Tomte Tummetott, mit Bildern von Harald Wiberg, Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 1960

Die schwedische Originalausgabe erschien im selben Jahr unter dem Titel TOMTEN.

Seit mehr als einem halben Jahrhundert immer wieder schön, wärmt dieses Buch die Herzen der Menschen.

 

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