Das Jahr 2022 habe ich persönlich als ziemlich unruhiges Jahr empfunden. Um es mal etwas beschönigend auszudrücken.

Obwohl es endlich einen Covid-Impfstoff gibt, hatte fast jeder in diesem Jahr eine Infektion mit dem Virus. Ein Verbrecher, samt seiner kriminellen Handlanger, zieht seinen imperialistischen Angriffskrieg ohne Rücksicht auf Verluste gnadenlos durch. In der weltweit größten Ausstellung für zeitgenössische Kunst ging es kaum um dieselbe und ein wild gewordener Milliardär sorgt dafür, dass eine, für mich bisher recht entspannte, Social-Media-Plattform von den vielen neuen Nutzern fast genauso hektisch betrieben wird wie dieser Microbloggingdienst, den der Milliardär nun doch kaufen musste.
Hinzu kam manch wilde Diskussion über „die gespaltene Gesellschaft“, Identität und „kulturelle Aneignung“, über Pazifismus und Antisemitismus, beziehungsweise darüber, selbst „auf der richtigen Seite zu stehen“.
Und natürlich ging es auch um Meinungs-, Rede-, Kunst- oder andere Freiheiten.

Ein wenig unter ging dabei, dass es doch auch endlich wieder Veranstaltungen mit interessantem literarischen Bezug gab. Gerne hätte ich zum Beispiel die Kasselbuch Übersetzertage besucht oder wäre zur szenischen Lesung mit einem Vortrag zum Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller gegangen, die im Juli im Naturkundemuseum Kassel stattfinden sollte.

Aus diesem Grund hatte ich mir im Frühsommer schon mal vorab Rüdiger Safranskis Goethe & Schiller, Geschichte einer Freundschaft, ausgeliehen.

Nun, ein wenig wild gestaltete sich daraufhin auch mein Leseleben. Da ich dann doch keiner dieser Veranstaltungen beiwohnen konnte, hatte ich aus dem Buch zwar so einiges über die Beziehung zwischen Goethe und Schiller neu erfahren, für einen Beitrag hier aber nicht die Muse. So wendete ich mich in der Ferienzeit erst einmal der etwas abwechslungsreicheren Unterhaltungs- beziehungsweise Spannungsliteratur zu. Unter anderem standen Elisabeth Herrmanns Zartbittertod oder Anthony Horowitz‘ Die Morde von Pye Hall auf dem Programm.

Mit dem Thema Kolonialismus wollte ich mich eigentlich schon länger intensiver beschäftigen, scheute zugleich aber heftigere Schilderungen aus der europäischen Kolonialzeit. Daher las ich zunächst den ins Krimiformat gepackten Jugendroman Zartbittertod.
Es geht darin um die nachhaltige und faire Herstellung von Schokolade, ein wenig Ost-West-Geschichte der Bundesrepublik und die Auswirkungen des Völkermords an den Herero im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“, dem heutigen Namibia, auf die Protagonisten – allen voran auf die junge Mia und ihre Familie.
Schlimmere Schilderungen vom Völkermord gibt es nur in kürzeren Tagebucheinträgen, die allerdings mit Originalzitaten aus einem Buch von 1906 gespickt sind. Dadurch macht Herrmann das damals vorherrschende nationalistische und rassistische Gedankengut ausgesprochen deutlich. Durch die schnell fortschreitende Thrillerhandlung, muss man dies jedoch nicht so nah an sich ran kommen lassen. Wer möchte, kann sich allerdings mittels dieser Story, die gekonnt Gegenwart und Historie verbindet, durchaus zum Nachdenken anregen lassen.

Um meine persönlichen Eindrücke von den Abgründen der Buchbranche zu bestätigen, griff ich dann noch zu Die Morde von Pye Hall.
Anthony Horowitz ist wohl nicht nur mir als Autor „very britisher“ Literatur für „All-Age“ 😉 bekannt. Im heimischen Bücherregal steht die – auch einst gelesene – Reihe um Alex Rider, einem jugendlichen Geheimagenten des MI6, und obwohl die Bibliografie und Filmografie im Wikipedia-Eintrag für Anthony Horowitz nur eine Auswahl darstellt, ist sie sehr lang.
Auch für den Charakter der Susan Ryeland, Lektorin des unter mysteriösen Umständen getöteten Autors Alan Conways in den Morden von Pye Hall, gibt es anscheinend eine Fortsetzung …
Nun, in diesem Roman zeigt Horowitz jedenfalls, mit stilistisch sicherer Schreibe und auf selbstironische Art, seine Zuneigung zur klassischen englischen Kriminalliteratur und der Branche, in der er sich bewegt. Immer wieder gibt es Bezüge zu Agatha Christie und
„die großen Detektive, die wir Leser so lieben“, oder auch zu anerkannten Literaten wie Salman Rushdie.
Zu guter Letzt beschlich mich folgender Gedanke: Ja, der Schriftsteller kann alles (schreiben), doch zu welchem Preis?

Bedeutende Veränderungen gab es auch im britischen Königshaus. Diese nahm ich zum Anlass, mich endlich mit einem Vorgänger der am 08. September verstorbenen Elisabeth II. zu beschäftigen.
König Richard der Zweite von William Shakespeare hatte ich mir vor Längerem gekauft, um das daraus stammende und von mir geschätzte Zitat „Wo Worte selten, haben sie Gewicht“ im Originalzusammenhang zu betrachten. Die mir vorliegende Reclam Ausgabe ist allerdings in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel aus dem Sommer 1799. Durch die altertümliche Sprache ist der Text nicht ganz so leicht zu erfassen und ich war doch sehr froh, auf Shakespeares Quellen zu Richard II. in neuerer Übersetzung zurückgreifen zu können. So las ich parallel den Abschnitt zu König Richard II. aus Raphael Holinsheds Die Chroniken Englands, Schottlands und Irlands, der in dem wunderschönen Buch Shakespeare und seine Welt, herausgegeben und vorgestellt von Günter Jürgensmeier, zu finden ist.
So zeitlich kurz dieses Leseerlebnis auch war, stellt es für mich doch ein interessantes Highlight in diesem manchmal etwas trüben Jahr dar.

Ach, und dann habe ich auch In der Männer-Republik, Wie Frauen die Politik eroberten, von Torsten Körner gelesen und mich zeitweise wieder in meine Kindheit und Jugend zurückversetzt gefühlt. Selbst aufgewachsen in der Männer-Republik von Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Richard von Weizsäcker sowie der ebenso von Männern dominierten Medienlandschaft von Der internationale Frühschoppen, BILD und Der Spiegel, kann ich den von Körner porträtierten Frauen heute wirklich dankbar sein, für ihren Kraft raubenden Einsatz auf dem steinigen Weg zu etwas mehr Emanzipation in der Bundesrepublik, – zumindest auf dem Papier der Gesetzestexte.
Ein lesenswertes Buch, vor allem für diejenigen, die jünger sind und heutige Errungenschaften als selbstverständlich nehmen. Aber auch für alle anderen, um vor Augen zu führen, was das Erreichte gekostet hat, und dass der Weg noch lange nicht zu Ende ist.

Die literarische Reise führte mich 2022 noch weiter: mit Ellen Sandberg und Das Geheimnis nach München und an den Chiemsee, mit Andreas Föhr und Herzschuss über Miesbach in die Affenhitze von Kempten und Kaufbeuren des Autorenduos Klüpfel und Kobr.
Mit Miss Merkel ging es in die Uckermark und ganz privat schaute ich mal, wie es aktuell an der Nordseeküste Niedersachsens ausschaut.
Auf Fernreisen nach Taiwan und Indochina begleitete ich, in Der Grillende Killer, Polizeikommissar Wu auf der Suche nach einem taiwanesischen Scharfschützen, und Colin Cotterill führte mich mit Dr. Siri, Briefe an einen Blinden, ins Laos von 1977.
In beiden Romanen erfährt man, im Rahmen einer mehr (Der Grillende Killer) oder weniger spannenden (Dr. Siri) Kriminalgeschichte mit originellem Personal, so einiges über die Gesellschaft und die politischen und historischen Hintergründe der Länder.

Ein wildes Jahr geht nun zu Ende.
Lesend mit Der Pub der guten Hoffnung, einem Mut machenden Roman von Alexandra Zöbeli.

Mut und Hoffnung sowie ein friedlicheres Miteinander – das wünschen wir uns doch alle für die Zukunft.