Warum wissen wir hier in Deutschland nichts davon, dass ab 1949 deutsche Frauen eine große Immigrantinnengruppe in Island gewesen sind? Das fragte sich die Autorin Anne Siegel, als sie eines Abends von ihrer isländischen Freundin davon erfuhr.
Auch meine liebe Freundin Franziska, die ich schon seit Studientagen kenne, hatte noch nichts von diesem hochinteressanten Kapitel deutsch-isländischer Zeitgeschichte gehört, und nachdem sie Anne Siegels Buch Frauen, Fische, Fjorde entdeckte, hat sie es bisher noch viermal in ihrem Freundeskreis verschenkt, eines eben auch an mich.

Dazu, warum wir nichts darüber wissen, stellt Anne Siegel nur im Epilog kurze Überlegungen an, die von ihren persönlichen Eindrücken aus den intensiven Gesprächen mit den inzwischen betagten Frauen und dem eigenen historischen Lernen in der Bundesrepublik der 70er Jahre beeinflusst sind.
Aber dank ihres Buches erfahren wir nun endlich doch davon.

In Frauen, Fische, Fjorde sind einige der alten Frauen bereit, ihre höchst individuelle Geschichte zu erzählen. Siegel bettet diese gekonnt und bewegend zu lesen ins politisch-gesellschaftliche Leben Deutschlands und vor allem Islands ein. Von der historischen Bedeutung des Þingvellir, über Frauen- und Namensrechte bis hin zum Bankencrash und seinen Folgen für die heute so alten Menschen führt die Reise durch deren persönliches Leben.

Ausgangspunkt ist Lübeck, eine Stadt, die Politikinteressierte und Literaturfreunde eher mit Willy Brandt oder Thomas Mann in Verbindung bringen, in der Island aber nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs seine erste diplomatische Vertretung in Deutschland errichtete und der isländische Bauernverband in den Lübecker Nachrichten eine Anzeige schaltete, in der Landarbeiterinnen, und der Form halber auch Landarbeiter, in Island gesucht wurden.
Über verschiedene Wege haben die in Siegels Buch porträtierten Frauen von der Möglichkeit erfahren, sich, zunächst geplant für ein Jahr, als Landarbeiterin in Island zu verpflichten. Diese Wege sind gezeichnet von den Wirren des Zweiten Weltkriegs, von Flucht und Angst, dem Tod naher Angehöriger sowie von Kälte und Hunger der ersten Nachkriegsjahre.
In Island treffen sie dann auf eine ungeahnt weite und wilde Natur, die den Rhythmus der harten Arbeit bestimmt und die Gemeinschaft stärkt, finden aber auch eine in vielen Bereichen freiere Gesellschaft vor.

In der mir geschenkten Taschenbuchausgabe kommen acht Frauen zu Wort und Anne Siegel schildert auch ihre eigenen Eindrücke von den Gesprächen mit diesen Frauen. Im letzten Kapitel berichtet sie, wie es dazu kam, dass sie sogar noch einen Mann treffen konnte, der ihr seine Lebensgeschichte als deutscher Immigrant in Island erzählte. Es ist Georg, einer der wenigen Männer, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Lübeck aus, eine Zukunftsperspektive in Island sahen.

Diese Frauen und der pazifistische Georg sind von unterschiedlichster Herkunft. So stammt Edith beispielsweise aus einem multikulturell-liberalen Elternhaus mit deutscher Mutter und russischem Vater und wuchs in Riga auf, während Hildegard wiederum aus einem streng preußischen, nationalsozialistischen Elternhaus kommt. Gleichwohl haben sie im gastfreundlichen Island eine Heimat gefunden und sind geblieben.

Ein absolut lesenswertes Buch.
Allein, damit noch mehr Menschen von diesen Biografien und diesem Stück Zeitgeschichte erfahren, werde auch ich dieses Buch weiterempfehlen und verschenken.

Anne Siegel: Frauen, Fische, Fjorde,
MALIK im Piper Verlag 2016/2020,
ISBN der erweiterten Taschenbuchausgabe
978-3-492-40609-3

Die inzwischen vergriffene Originalausgabe erschien 2011 im Bucher Verlag.