Anlässlich des Bundesweiten Vorlesetags, den die Organisatoren seit 2004 als Deutschlands größtes Vorlesefest feiern, versuchen Prominente und Büchermenschen in diversen Medien, dem Vorlesen eine Lobby zu geben.
Die Süddeutsche Zeitung ließ am 15.11.2019 auf ihrer Panorama-Seite die Schauspielerin und Hörbuchsprecherin Anna Thalbach mit wichtigen Anregungen zu Wort kommen, wartete allerdings mit dem Zitat in der Überschrift auf, dass es ein Verbrechen sei, wenn Eltern ihren Kindern nicht vorläsen.

Natürlich wurde im Hause Thalbach, Anna ist die Tochter der ebenfalls sehr beliebten und erfolgreichen Schauspielerin Katharina, viel vor- und auch viel selbst gelesen. Das bedingt allein die zwangsläufige Nähe zur Literatur in einer Schauspielerfamilie. So hat Katharina ihrer Tochter Anna als Einschlafritual Kinderlieder vorgesungen, und auch Annas Tochter Nellie kam in den Genuss lebendigen Vorlesens, vielleicht fast wie in einer szenischen Lesung.

Tipps fürs lebendige Vorlesen hat Anna Thalbach auch: Sie empfiehlt, jedem Charakter eine andere Stimme zu geben, langsamer zu lesen, wenn etwas Langsames passiert und entsprechend schneller zu lesen, wenn „alle rumrennen oder eine Verfolgungsjagd stattfindet.“
Warum manche Hemmungen haben, ihre Stimme zu verstellen, weiß Anna Thalbach nicht.
„Man müsse sich nur zurückerinnern an sich selbst, als man klein war. Da hat man Spielfiguren auch verschiedene Stimmen gegeben — ohne darüber nachzudenken, ob das irgendwie peinlich ist.“
Von einer Schauspielerin würde ich vielleicht etwas mehr Empathie für die Menschen erwarten, die im Alltagsstress dem kindlichen Spielen keine Zeit mehr einräumen und glauben es verlernt zu haben.
Mit ihrer Meinung, „es ist ein Verbrechen von den Eltern, wenn sie ihren Kindern nicht vorlesen“, wird ihr persönliches Urteil regelrecht zur Verurteilung.
Sie wünscht sich, „Eltern würden, wenn sie schwanger sind, schon Vorlesekurse besuchen, wenn sie da unsicher sind.“
Dabei wäre doch Learning by Doing ein schöner Anfang.

Das ultimative Vorlesebuch gäbe es natürlich nicht, so Thalbach: „Man muss den Kindern so viel wie möglich anbieten, um herauszufinden, was ihnen liegt.“ Und wenn man langsam genervt sei, weil dann doch ein Buch zum x-ten Mal vorgelesen werden soll, kann man sich als Vorleser*in, immer wieder klar machen, „dass das Kind das aber liebt, auch wenn es das zum zehnten Mal hört.“

Dieses Buch war selbst im Sommer noch ein Renner: Morgen, Findus, wird’s was geben (Oetinger)

 Zu guter Letzt sagt Anna Thalbach: „Man muss immer vorlesen, als sei das jetzt das Allerwichtigste der Welt.“

Das Allerwichtigste beim elterlichen Vorlesen wurde aus meiner Sicht jedoch nicht erwähnt.
Es ging um „die Möglichkeit, sich auszudrücken“, „den Zauber und die Macht der Sprache“, „die Auswahl im Wortschatz“, „mit Sprache umzugehen“, die richtigen „Altersempfehlungen“ sowie um „selbst nachdenken“  und Fragen zu stellen, als „ein wichtiges Element in der Menschwerdung.“
All das sind richtige und sehr wichtige Aspekte des Vorlesens. Dies können aber auch Erzieher*innen und Lehrer*innen, Tagesmütter und Tagesväter, Betreuer*innen und selbstverständlich Schauspieler*innen leisten.

Eltern sind eher selten Schauspieler, oder auch nur Laienschauspieler. Das ist auch nicht nötig, um seinem Kind einen guten Start ins Leben mitzugeben, ein selbstbewusster, ja sich selbst bewusster Mensch zu werden. Dafür braucht es Nähe und ein Gefühl der Geborgenheit. Beim Vorlesen lässt es sich hervorragend kuscheln und wenn ich möchte, dass mein Kind endlich zur Ruhe kommt, braucht’s auch keine ausgebildete Stimmlagenveränderung.
Mit Wimmelbüchern kommen wir miteinander ins Gespräch — ganz ohne geschriebenen Text.

Also: Nicht unter Druck setzen lassen, sondern einfach machen. Vorlesen, oder Sach- und Bilderbücher zusammen anschauen, bringt allen etwas. Denn auch Jugendliche und Erwachsene brauchen Nähe.

 

PS: Wer mehr über die Bedeutung einer Umarmung oder das Begreifen unserer Lebenswelt wissen möchte, kann dies in Martin Grunwalds Buch: Homo Hapticus , Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können (Droemer), nachlesen.