Verwischte Fenster zur Erinnerung

Jean Eyben erinnert sich.
An seinen ersten Auftrag, den er vor Jahrzehnten in der Agentur Hutte erhalten hatte.
An seine Nachforschungen im Pariser 15. Arrondissement über die verschwundene Noëlle Lefebvre.
Warum hat er das kurze Dossier über diesen Fall „zur Erinnerung“ in seine Ledertasche gesteckt, nachdem er die Agentur wenige Monate später schon wieder verließ?
Er macht sich noch einmal auf die Suche nach Noëlle Lefebvre und seinen Erinnerungen.

Ich frage mich: Braucht es wirklich eine Antwort? Ich fürchte, hat man einmal alle Antworten gefunden, dann wird das Leben hinter einem zuschnappen wie eine Falle, mit dem Schlüsselgeklirr von Gefängniszellen. Wäre es nicht ratsamer, man ließe Brachflächen um sich herum, in die man entwischen kann?“

Doch Antworten ergeben sich, bleiben sie vielleicht auch unausgesprochen und unscharf wie das Foto auf dem Buchcover.

Für das Lesen dieses — an Seiten schmalen — Romans sollte man sich Zeit nehmen und Ruhe haben, sollte für sich sein, bei sich sein, „Störgeräusche“ ausblenden, wie es auch Jean Eyben auf der Reise zu seinen Erinnerungen versucht. Dann kann man etwas Großes finden.

Satz für Satz wunderbar formuliert, erzählt der Nobelpreisträger Patrick Modiano in Unsichtbare Tinte eine rätselhaft schöne Geschichte über das Vergessen und Erinnern, über die subjektive Wahrnehmung von Begegnungen und Orten im Laufe des Lebens.

Patrick Modiano: Unsichtbare Tinte, aus dem Französischen von Elisabeth Edl, Carl Hanser Verlag 2021,
ISBN der gebundenen Ausgabe
978-3446-26918-7